BILD-Vorsorgegipfel : „Vorsorge ist eine Investition in ein längeres Leben“
Mehr als 100 Experten aus Medizin, Forschung, Politik und Wirtschaft zu Gast im Axel-Springer-Hochhaus
Berlin – „Vorsorge ist das Gebot der Stunde“, sagte Arbeitsminister Hubertus Heil (51, SPD) in einer Videobotschaft zur Eröffnung des BILD-Vorsorgegipfels. Darüber waren sich alle 100 Top-Experten aus Medizin, Politik und Wirtschaft am Mittwoch (16. 10.) im Berliner Axel-Springer-Hochhaus einig.
Obwohl Prävention die beste Medizin ist, ist unser Gesundheitssystem nicht auf Vorsorge ausgelegt! Die Deutschen sind so krank wie noch nie, die Fehltage haben Rekord-Niveau erreicht. Deshalb plädierte Hubertus Heil in seiner Videobotschaft: „Arbeit darf nicht krank machen.“
Männer, geht zur Vorsorge!
Männer sind besondere Patienten! Sie gehen erst zum Arzt, wenn sie Schmerzen haben. Das sei einer der Gründe dafür, warum die Beteiligung an Früherkennungs-Untersuchungen bei Männern deutlich niedriger sei als bei Frauen, sagte Privatdozent Dr. Tobias Jäger, Vorstand Deutsche Gesellschaft für Mann und Gesundheit e. V. (DGMG) und niedergelassener Urologe.
► Nur etwas mehr als 15 Prozent der Männer gehen regelmäßig zu Vorsorge-Untersuchungen. 78 Prozent der Männer gaben an, lange Wartezeiten beim Arzt schreckten sie ab.
Wie lebensgefährlich das werden kann, berichtete Hautkrebs-Patient Karsten Fesser im Video: „Ich bin zehn Jahre nicht zur Hautkrebs-Vorsorge gegangen“, gestand er. Dann kam der Krebs! Heute macht er sich dafür stark, dass Männer mehr auf ihre Gesundheit achten.
Privatdozent Dr. Jäger prangerte an: „Männer sind sehr träge, bei leichten Beschwerden dauert es manchmal Jahre, bis sie zum Arzt gehen. Häufig steht die Karriere im Vordergrund und Arzttermine rücken in den Hintergrund.“
► Olaf Theuerkauf, Vorstand der Stiftung Männergesundheit, machte den Vorschlag: „Die Gesellschaft muss schon viel früher über wichtige Gesundheitsthemen aufgeklärt werden – spätestens in der Berufsschule.“ Denn in der Pubertät gehen viele Mädchen das erste Mal zum Frauenarzt und werden dort engmaschig betreut, führt Dr. Jäger aus, bei Jungen fehlt diese Vorsorge bereits im Teenager-Alter, obwohl es entsprechende Untersuchungen gibt.
Dr. Jäger ist zudem überzeugt, dass etwa bei der Prostatakrebs-Vorsorge die Tastuntersuchung viele Männer abschrecke. Es sei wichtig, bekannt zu machen, dass es mittlerweile Wege über den PSA-Wert gibt, die ohne Tastuntersuchung auskommen.
Aber Jäger blickt positiv auf kommende Generationen: „Wenn es um die psychische Gesundheit geht, bin ich zuversichtlich – ich glaube, dass Männer in Zukunft bewusster darauf achten.“
Theuerkauf stimmt zu: „Es bilden sich neue Männlichkeitsbilder heraus und viele Jungs und Männer achten schon jetzt mehr auf Ernährung und einen gesunden Lebensstil.“
Krebsvorsorge neu denken
Die Krebs-Früherkennung ist in Deutschland solide. Fast alle Früherkennungs-Untersuchungen, die von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden, fokussieren sich auf Krebserkrankungen. Aber sie könnte noch viel besser sein.
Prof. Christof von Kalle vom Berlin Institut of Health (BIH) an der Charité, erklärte in seinem Vortrag: „Vorsorge ist eine Investition in ein längeres Leben. Die Medizin ist dabei heute schon sehr erfolgreich. Zum Beispiel bei Herz- und Kreislauferkrankungen, aber auch mit den heute möglichen Impfungen wie z. B. gegen Corona. Bei den HPV-Impfungen stehen wir in Deutschland dagegen sehr schlecht da. Wir geben gerade für die Prävention zu wenig Geld aus. Dabei dürfte es am Thema Geld nicht scheitern, wenn man die Einnahmen des Staates zum Beispiel für die Tabaksteuer betrachtet. Wir müssen tatsächlich die Vorsorge neu denken. So könnten Daten Menschenleben retten, der Patient hat ein Recht auf seine Daten.“
COPD – weit mehr als eine Raucherkrankheit
Besonders herausfordernd wird die Vorsorge bei Krankheiten, die stigmatisiert und verharmlost werden. Dazu gehört die chronisch obstruktive Lungenerkrankung COPD. Sie wird häufig als Raucherkrankheit betitelt, die Betroffene selbst verschuldet haben.
Prof. Christian Taube, Direktor der Klinik für Pneumologie an der Universitätsmedizin Essen, Stellv. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie, Stellv. Vorsitzender der Deutschen Lungenstiftung e. V., erklärte: „Viele Menschen wissen gar nicht, was COPD ist und wie gefährlich die Krankheit werden kann. COPD ist eine Krankheit, die durch äußere Einflüsse – meist das Rauchen – entsteht und die Atemwege und die Lunge zerstört.“ Es gebe zwar auch seltene genetische Ursachen, die eine COPD auslösen können, doch 95 Prozent der COPD-Patienten seien Raucher.
Dass nicht alle Patienten mit COPD vorher geraucht haben, zeigte das Beispiel von Jürgen und Ursula Fiebiger: Beide sind daran erkrankt, obwohl sie nie geraucht haben. Mit BILD-Redakteurin Jana Kolbe haben sie über ihre Erkrankung gesprochen. Jürgen Fiebiger wurde erst spät diagnostiziert. „2007 kam der Hammer, meine Lungenwerte waren im Keller und der Arzt sagte mir: Sie haben COPD. Das war erst einmal ein Schock.“
Vor fünf Jahren dann der nächste Schock: Auch Ehefrau Ursula Fiebiger litt seit ihrer Jugend an einem Husten, der zu einer chronischen Bronchitis wurde – jetzt ist es COPD. Mittlerweile hat das Ehepaar einen Weg gefunden, mit der Krankheit zu leben: mit Medikamenten, viel Bewegung und Sport.
Kristine Lütke (FDP), Bundestagsabgeordnete und Sprecherin für Sucht- und Drogenpolitik, sagte während der Panel-Diskussion: „Wir sehen an verschiedenen Zahlen eine bedenkliche Entwicklung bei den Frauen – ich glaube, das ist falsch verstandene Emanzipation.“ Sie fordert, dass jeder Mensch die Möglichkeiten haben solle, seine Gesundheitskompetenzen zu fördern und selbst etwas Gutes für seine Gesundheit zu tun.
Aufgeben müssen sich bereits erkrankte Patienten nicht: Es gibt einige Therapie-Möglichkeiten, die die Lebensqualität erhalten. Doch auch dort hakt es noch:
„COPD ist die dritthäufigste Todesursache weltweit nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs“ betonte Dr. Maher Najjar, Business Unit Director Respiratory & Immunology Astra Zeneca. „Das ist Wahnsinn – alle 15 Minuten stirbt ein Mensch an COPD.“
► In Deutschland gibt es sieben Millionen Menschen mit einer COPD – doch nur die Hälfte werde überhaupt behandelt. Dahinter stecke einerseits Scham und eine Hemmschwelle, zum Arzt zu gehen, andererseits aber auch eine falsche Prioritätensetzung beim Hausarzt. „Es muss sehr viel mehr Aufklärung geben“, fordert er.
Auch wenn nicht alle COPD-Erkrankungen durch das Rauchen ausgelöst werden: Es ist der größte Risikofaktor für die Erkrankung. BILD macht sich zusammen mit Hypnotiseur Jan Becker dafür stark, dass Menschen endlich den Absprung von der Zigarette schaffen. Mit großem Erfolg.
Jan Becker berichtete über die Aktion Rauch-Stopp: „Seit ungefähr 15 Jahren helfe ich Menschen mit dieser Methode, Nichtraucher zu werden. Mein Traum ist es, jedem der 11 Millionen Raucher in Deutschland die Möglichkeit zu geben aufzuhören.“ Er erklärt, wie er Menschen klarmacht, dass sie aufhören können, wie sie das anstellen und wie schließlich der Hypnose-Anteil funktioniert.
Der Darm ist ein unterschätztes Organ
Lange wurde der Darm unterschätzt. Heute ist klar: Er hat viel mehr mit dem allgemeinen Gesundheitszustand zu tun, als viele Jahrzehnte angenommen. Doch was ist Wahrheit und was ist Mythos?
► Prof. Andreas Michalsen, Chefarzt der Abteilung Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin, Stiftungsprofessor für klinische Naturheilkunde am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité Berlin, sagte: „Die Darmbakterien sind eine sehr wichtige Schaltzentrale und haben eine große Bedeutung für unseren gesamten Körper.“ Die Ernährung sei dabei der Hauptschalter für ein gesundes Mikrobiom. Gute Ernährung müsse aber kein Genussverzicht bedeuten.
Dass Darmbakterien eine große Rolle für unsere Gesundheit spielen, bestätigte auch Mag. Anita Frauwallner, Darmexpertin und CEO des Institut Allergosan: „Ein gesundes Mikrobiom hat eine wichtige und unterstützende Bedeutung. Entzündungen im Darm wirken sich negativ auf den Körper aus, deshalb braucht man die richtigen Bakterien, also Probiotika, die das verhindern können.“ Das Problem sei, dass viele Menschen eine gesunde Ernährung nicht lange durchhalten würden.
► Prof. Ewa Klara Stürmer, Chirurgische Leitung des Comprehensive Wound Centers UKE Hamburg, Translationale Wundforschung, Vorständin Deutscher Wundrat, warf ein: „Probiotische Bakterien können krank machende Keime in Wunden von Diabetikern ausschalten. Das wissen wir heute aus Studien. Sogar die Zahngesundheit, also eine Parodontitis, verbesserte sich durch die Gabe der richtigen Probiotika.“
Die Gesundheit des Darms spielt tatsächlich auch bei der Entstehung von Diabetes eine große Rolle, weiß Prof. Michalsen. Neueste Forschungsergebnisse zeigten einen deutlichen Zusammenhang zwischen Darmflora und Diabetes.
► Spannend: Der Darm und das Gehirn kommunizieren über die sogenannte Darm-Hirn-Achse miteinander. In seinem Vortrag erklärte Prof. Christoph Kleinschnitz, Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen: „Darm und Hirn hängen eng miteinander zusammen. Der Darm ist unser zweites Gehirn. Die Verbindung funktioniert über das autonome Nervensystem. Umgekehrt übertragen Botenstoffe Signale ins Hirn. Wir wissen auch, dass im Darm schädliche Eiweißstoffe gebildet werden, die ins Gehirn wandern und dort Krankheiten wie Parkinson auslösen können.“
Fertig oder faul – arbeitet sich Deutschland krank?
Während des abschließenden Panels diskutieren die Experten darüber, dass Vorsorge auch ins Arbeitsleben integriert werden muss. Schließlich verbringen die Deutschen im Laufe ihres Lebens 52.662 Stunden durchschnittlich bei der Arbeit. Die Krankheitstage explodieren.
Dr. Markus Beier, Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes, erklärte: „Die Infekte der Atemwege nehmen zu, Muskel-Skelett-Erkrankungen werden häufiger und die Zeiten, in denen die Menschen krank sind, werden länger.“ Die Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung hingegen spiele aus seiner Sicht kaum eine Rolle bei erhöhten Fehlzeiten. „Umgekehrt wäre es ein riesiges Problem, wenn plötzlich wieder alle mit Husten, Schnupfen, Durchfall in die Praxen kommen.“
Prof. Susanne Völter-Mahlknecht, Direktorin des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Georg-August Universität Göttingen, sprach etwa über die Arbeitsmoral der Deutschen und erklärte, dass die Einstellungen dazu, was den Menschen wichtig ist, sich verändert haben. Dabei könnten viele vielleicht von der Generation Z lernen.
Dr. Lars Nachbar, Chief Health and Safety Officer bei Volkswagen Group, berichtete aus seinem Alltag: „Wir sind mit 300.000 Beschäftigten natürlich ein Spiegelbild der Gesellschaft – die meisten Krankheitsfälle entfallen auf Muskel-Skelett-Erkrankungen, gefolgt von Atemwegserkrankungen und psychischen Erkrankungen.“ Aus seiner Sicht spielen bei der Entscheidung, mit einer leichten Erkrankung zur Arbeit zu gehen oder zu Hause zu bleiben, zahlreiche Faktoren eine Rolle. Dazu gehören etwa das Team, Spaß an der Arbeit oder die Sinnhaftigkeit des Berufs.
„Wir verdienen an der Krankheit, nicht an der Gesundheit“
Dr. Johannes Wimmer, Mediziner, Content Creator und TV-Moderator schloss den Tag mit einer kurzweiligen Keynote zum Thema „Was fehlende Vorsorge kostet“.
Er stellte die ketzerische Frage: „Wollen wir junge Männer für die Vorsorge überhaupt erreichen?“ Sein erschreckendes Argument: „Wir verdienen daran nichts. Wir verdienen an der Krankheit, nicht an der Gesundheit. Wir arbeiten nicht in einem Gesundheitssystem, sondern in einer Krankheitsindustrie. Das ist bitter.“
Doch er verspricht auch einen Lösungsansatz: „Wir müssen die Leute überzeugen, Vorsorge zu machen.“ Dafür bemüht er einen Bibel-Vergleich zur Arche Noah. Denn wann hat Noah seine Arche gebaut? „Vor dem Regen – denn Noah hat vorgesorgt. Aber nicht, weil er sich das überlegt hat, sondern weil Gott zu ihm gesprochen hat. Und genauso funktioniert es heute mit Google und Amazon. Ihnen bringen die tollsten Erkenntnisse nichts, wenn Sie es nicht schaffen, diese in Verbindung zu den Menschen zu setzen.“
► Er meint: Moderne Medizin könnte über die elektronische Patientenakte ähnlich wie Google Artikel vorschlägt oder Spotify Lieder zusammenstellt passende Behandlungen vorschlagen. „Damit Sie die Menschen erreichen, bevor es kritisch wird – wir haben kein Erkenntnis-Problem, wir haben ein Umsetzungsproblem. Der Köder muss dem Fisch schmecken – nicht dem Angler.“